Bernd A. Lawrenz · Dresden

Dornblüthstr. 27, 001277 Dresden
passiert, passiert (Auge um Auge - Zug um Zug)

Meine Projektidee ist im Spannungsfeld zwischen Performance und Service-Kunst (was immer Mensch darunter verstehen möge) angesiedelt.
Als Fahrkartenkontrolleur uniformiert, werde ich durch den Zug gehen und die Fahrkarten erst scheinbar kontrollieren - in Absprache mit dem Zugpersonal wenn erforderlich erst nach der regulären Kontrolle - dann die Rückseiten der Fahrkarten durch kleine Zeichnungen und selbstgefertigte Stempel zu originalen Kleinkunstwerken umwerten, die dann als Andenken an das Grenzfahrtprojekt von den Fahrgästen möglicherweise nicht oder nicht gleich entsorgt werde.

Durch das Spiel mit der Irritation - ausgelöst durch die zweite Kontrolle, die skurrile Situation und nicht zuletzt durch die entstehenden "Kreationen" werden hoffentlich Humor, ernsthafter geistiger Austausch oder einfach (zwischen-)menschliche Gespräche angeregt und ausgelöst.

Die Performance trägt somit Prozeßcharakter und wird als solche besonders für Leute erlebbar, die regelmäßig oder täglich z. B. berufsbedingt bestimmte Streckenabschnitte passieren, auf denen sonst nicht viel passiert.

Biografie

1963 Geburt des Bernd Andreas Lawrenz in Berlin
1985 – 1990 Studium der Kunsterziehung und Germanistik in Berlin und Dresden
1990 – 1994 Lehrer für Malerei und Grafik an der TU Dresden
seit 1994 freischaffend in Dresden
seit 1996 Mitglied des BBK
seit 1997 Leiter verschiedener künstlerischer Kurse an der Volkshochschule Dresden
seit 1998 Honorardozent an verschiedenen Gestalterschulen

Bernd E. Lawrenz – Der Kontrolleur

"Guten Tag, Ihren Personalausweis bitte!"
"Was, Personalausweis? Was soll denn daß?" (Eine Frage, die nicht allzu oft gestellt wurde. Meistens wurden bereitwillig die Ausweise gezückt und ausgehändigt.)
"Kein Grund zur Beunruhigung. Das ist eine allgemeine Streckenfrequentierungserhebung..."

So oder ähnlich verlief der Einstieg in mehr oder weniger intensive Gespräche, die je nach Offenheit und Gesprächsbereitschaft der einzelnen Fahrgäste von der ursprünglich distanzierten, autoritär-steifen Konrollsituation den Charakter entweder eines einseitig informativen Statements bzw. Interviews annahmen oder gar den eines entspannten zwischenmenschlichen Gedankenaustausches.
Nach Erhalten und Einsicht in die Ausweise folgte planmäßig die Frage, ob und wie häufig die befragte Person die Grenze überschritten und das tschechische Nachbarland besucht habe. Bei ein- und mehrmaliger Grenzüberschreitung wurde dem Fahrgast von mir eine selbstgestaltete Urkunde ausgestellt, die ihm das Diplom des "Erfahrenen Grenzgängers" verlieh.

Viele Leute hielten mich tatsächlich für einen Bahnbeamten. Die Uniform wirkt trotz aller DDR-Rangabzeichen und des aufgenähten Ärmelstreifens "Segelschulschiff Wilhelm Pieck" so überzeugend, daß ich oft auf Bahnhöfen nach Auskunft über Zugfahrtszeiten gefragt wurde. Selbst beim Bemerken des besagten Aufnähers lassen sich einige noch durch fadenscheinige Begründungen wie gesundheitsbedingten Wechsel meiner Person von Schiff zu Bahn täuschen.
Ein älterer Mann aus Westberlin, promovierter Biologe, der, wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellte, irgendwann negative Erfahrungen mit Autoritäten, Kontrollen und Uniformen gemacht hatte, zeigt erst anstandslos seinen Ausweis. Dann fragt er mutig und gleichzeitig voller Unmut nach dem Grund der Kontrolle. Nachdem ich mich zu erkennen und ihm die Projektidee zu verstehen gegeben habe, sagt er: "Und ich Idiot zeige Ihnen noch meinen Ausweis! Ich muß mal meinen Psychiater fragen, was der dazu meint." Ich kann ihn verstehen und empfinde Sympathie für seine Ehrlichkeit.
Einmal setzte ich mich zu einer Mutter, die mit ihrer erwachsenen Tochter und deren Freundin zum Sascha(Popstar)konzert nach Zwickau fuhr. Nach unhinterfragter Kontrolle und während meiner Information über das Grenzfahrtsprojekt, welches seit Tagen läuft und von dem sie noch nichts bemerkt haben, schweigen die jungen Damen in Vorfreude und Aufregung (nur die Mutter hört mir höflich zu). Die Tochter zu ihrer Freundin, als wenn sie zu einem Miss-Erzgebirge-Wettstreit fährt: "Du, der Sascha ist 24." Die Freundin (entsetzt):
"Was? Der ist ja ein Jahr jünger als ich!" Ich gebe (ironisch) zu bedenken: "Na dann ist der ja wohl zu jung und nichts für Sie!" Darauf sie (naiv, mit hoffnungsvollem Augenaufschlag und verträumten Seufzer: "Ach, vielleicht ja doch?!" Ich bin froh, daß ich kein Popstar bin, wünsche noch eine gute Fahrt und steige aus, um nach dreiviertelstündiger Wartezeit in entgegengesetze Richtung zum Quartier Bahnhof Hartenstein zurückzufahren. Nach zehn Stunden Rollenspiel mit Distributionsüberhang freut man sich auf ein warmes Abendessen und einen Schlafplatz im Armeedoppelstockbett.
Jeder neue Tag konfrontiert auch mit unerwarteten Haltungen einzelner Landsleute. Manchmal ist man sprachlos vor Fremdenhass, der einem entgegenschlägt. Ein spätpubertärer Anfang-Dreißiger mit militanten Tarnfleckenhosen antwortet verkniffen-aggressiv auf die Frage, ob er ab und zu über die Grenze fahre: "Zu de Zigeuner fahr ich ne!"
Dann wieder erzählt mir ein alter, 1922 geborener Mann, sein halbes Leben. Ich höre geduldig zu. Als er nichts mehr sagt, informiere ich ihn kurz über das Grenzfahrt-Projekt.
Die einzige Frage, die ihm einfällt: "Und wer bezahlt das Ganze?" (Aufzählungen der fördernden Institutionen und Sponsoren durch mich). Der Kommentar des Alten: "Na ja, es ist ja kein Krieg, da bleiben schon mal paar Pfennige über (lacht)": Vor dem Hintergrund seiner möglichen Kriegserfahrungen bin ich nicht sicher, wie ich diese Bemerkung interpretieren kann.
Auch echtes Zugpersonal wollte ich in mein Rollen(wechsel)spiel einbeziehen. (Vor dem Schöpferischen sind alle gleich!). Von etwa einem dutzend Versuchen scheitern neun kläglich durch Desinteresse oder offene Ablehnung. Die deutschen Beamten waren anfangs schlecht oder gar nicht über das Projekt informiert.
Auf der tschechischen Seite dagegen Offenheit, Hilfsbereitschaft, spontane Übersetzungshilfe von Tschechen und Deutschen und äußerst freundliche Zugbegleiterinnen, die mir bereitwillig und amüsiert ihre Ausweise zeigen, sich ehrlich über die Urkunden freuen, welche auch ins Tschechische übersetzt sind, und die mir auf gute alte Art gastfreundschaftlicher Rituale Zigaretten und tschechischen Rum anbieten. Nichts zu spüren von Mißtrauen oder Angst vor Autoritätsverlust wie auf deutscher Seite.
Ich stellte mir die Situation umgekehrt vor: Ein tschechischer Künstler in einer tschechischen Kontrolleursuniform versucht, in einem deutschen Zug bei deutschen Bahnbeamten eine Ausweiskontrolle zu machen...
Über die möglichen Folgen dieser fiktiven Situation wie auch über die Ursachen der unterschiedlichen Reaktionen auf die von mir durchgeführten Kontrollen auf deutscher und tschechischer Seite der Grenze ließen sich verschiedene Spekulationen an- sowie mehr oder weniger streitbare Thesen aufstellen. Irgendwie scheint vieles mit Geld, Währung und Wirtschaftskraft sowie deren Folgen Abgrenzungsverhalten, Verlustängste und Vorurteile gegenüber Fremden (besonders auf deutscher Seite) zu tun zu haben. Die Unterschiede zwischen ostdeutschen und westdeutschen Territorium und auch zwischen den dort lebenden Menschen wachsen. Das scheint vielen (Ost)Deutschen nicht unangenehm zu sein.
Ein älterer Mann z. B. (seit 30 Jahren Lehrer, u. a. Kunsterzieher, der zu DDR-Zeiten diesen Beruf gern ausübte, seit der Wende jegliche Liebe zum Beruf verloren habe) war der Meinung, bevor die Tschechische Republik in die EU aufgenommen werden könnte, müssen erst die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland beseitigt werden, da es vielen Ostdeutschen vergleichsweise immer noch sehr schlecht gehe.

So, wie die Unterschiede in den öffentlichen Erscheinungsbildern beider grenznaher Regionen wachsen, so wachsen auch die Grenzen in den Köpfen. Bisweilen jedoch begegnet man Menschen, die Grenzen wirklich überschreiten, um zu sehen, was dahinter ist, und die eigene Geschichte nicht vergessen haben.